Von Elisabeth Murr-Brück
Eberbach. Vor einem Monat hat die Geschichte die Gemüter bewegt, obwohl allen Beteiligten klar war: Es ist nur eine Geschichte, ein Theaterstück, ein Film: "Terror", das jüngste Buch des schreibenden Juristen Ferdinand von Schirach, sein erster Krimi, ein Polit-Thriller. Der Täter will eine Passagiermaschine der Lufthansa über der vollbesetzten Allianz-Arena zum Absturz bringen. Gegen Regierungsbeschluss und die Anweisung, nichts zu unternehmen entschließt sich der Kampfpilot Lars Koch, das Flugzeug vorher abzuschießen, die 164 Passagiere zu opfern, damit die 70.000 im Stadion vor dem wahrscheinlichen Tod gerettet werden.
Weil er damit gegen Befehl und geltendes Recht handelt, muss er sich vor Gericht verantworten. Der ARD-Film hatte zwei Schluss-Versionen, die Zuschauer konnten über "schuldig" oder "nicht schuldig" abstimmen; direkt danach wurde das Thema in "Hart, aber fair" diskutiert.
Wenn Rena Ott-Seidel, die seit vielen Jahren den Lesekreis leitet, den Teilnehmern ihre Buchvorschläge unterbreitet, dann bemüht sie sich stets, aktuelle Themen aufzugreifen; "Terror" fand ungeteilte Zustimmung. Die Geschichte wühlt auf, lässt niemanden kalt, weil sie unser persönliches Wertesystem angreift. Richtig und falsch, gut und schlecht sind keine verlässlichen Größen mehr, das Koordinatensystem scheinbar unverrückbarer Werte verliert die festen Bezugspunkte. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" : Artikel 1 des Grundgesetzes steht über allem, den persönlichen Konflikt in diesem Fall erleichtert er nicht, auch nicht für die Leserunde.
Kann man Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Darf "der gesunde Menschenverstand" sich über durchdachte Regeln hinwegsetzen? Ist das anscheinend kleinere Übel nur scheinbar geringer, weil die Folgen für den Entscheider nicht absehbar sind?
Wie das Urteil auch ausfällt: "Der Pilot muss mit seiner Entscheidung, seinen persönlichen Schuldgefühlen leben", findet die Leserunde. Die TV-Zuschauer im Oktober plädierten mit 86,9 Prozent für "nicht schuldig", nur 13,1 Prozent hätten den Piloten verurteilt. Zeitgleiche Abstimmungen in Österreich und der Schweiz brachten nahezu identische Ergebnisse.
Die Leserunde verzichtet auf ein Urteil, darum gehe es auch nicht, finden die Teilnehmer; manche sind auch für sich selbst noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Wiederholt kommt das Dilemma zur Sprache, wenn ein theoretisches Konzept nicht zu den Anforderungen einer ganz konkreten Situation zu passen scheint.
Noch ein Faktor kommt ins Spiel: der Zeitdruck. Die Entscheidung musste innerhalb von Sekunden getroffen werden, keine Möglichkeit, das Für und Wider ruhig abzuwägen. Erst recht, wenn es eigentlich nur falsche Entscheidungen geben kann. Aber darf man dann einen Befehl ignorieren? Unwidersprochen bleibt die Einlassung: "Der Pilot hätte es sich einfach machen können, wenn er sich daran gehalten hätte". Das wurde auch, auch für den Kriegsfall, literarisch nicht zum ersten Mal thematisiert. "Spontan" ist einer Teilnehmerin ein Klassiker eingefallen: Kleists "Prinz von Homburg". Gemeinsam findet man sich auch im Benjamin-Franklin-Zitat: "Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren." Beim nächsten Lesetreff im Dezember wird über "Mohamed" von Hamed Abdel-Samad diskutiert. Der Autor, Sohn eines sunnitischen Imams, untersucht hier detailliert und kritisch die Biografie des Propheten. Neue Teilnehmer, Frauen wie Männer, sind im Lesekreis immer willkommen, der genaue Termin wird noch bekanntgegeben.