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Nachtwächterführung: Ein Blick auf die skurrile Vergangenheit Eberbachs

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Von Hayo Eckert

Eberbach. Erstaunlich Skurriles, ja Pittoreskes hat die Geschichte Eberbachs zu bieten. Eberbachs Nachtwächter haben da nicht nur staunenden Einheimischen so manch Unbekanntes zu berichten.

Von dem über und über tätowierten Eberbacher Georg Stumpf, Spitzname Pluto, der 1904 beim chinesischem Boxeraufstand als deutscher Marineinfanterist dabei war. Dass von der Decke seiner Wohnung in der ,Chinagasse‘, eigentlich Backgasse, ein präpariertes Krokodil baumelte. Von den größten ,Stolpersteinen‘ Deutschlands oder der Eberbacher Dampfziegelei, die in Konkurs ging, weil die Qualität der Ziegel zu gut war. Es ist feuchtkalt ,als sich die ca. 30 Teilnehmer zur ersten Nachtwächterführung 2019 mit Eugen Emmig im Innenhof des Pulverturms treffen. Eigentlich genau das richtige Wetter, um zu spüren, wie die Nachtwächter in den vergangenen Jahrhunderten durch Kälteschauer geplagt, von abends 22 Uhr bis morgens vier Uhr durch die dunklen Gassen der Stadt wandelten. Bewaffnet mit Hellebarde und Laterne sahen sie nach dem Rechten und verkündeten lauthals jede neue Stunde. Der Mantelturm wurde umgangssprachlich zum Pulverturm, beginnt Nachtwächter Emmig seine Erzählungen. Des Nachts wurde die Geldkiste des Rathauses, also das .Pulver‘ darin aufbewahrt. Die passende Gelegenheit zu erwähnen, dass die Nachtwächter zu den ärmsten Leuten der Stadt gehörten. Wer das niedrigste Gehalt verlangte, bekam den Job von den Stadtoberen. Deshalb hätten sich die Nachtwächter ein Zubrot verdient, indem sie die Bäcker und Metzger am frühen Morgen rechtzeitig zum Arbeitsbeginn weckten.

Auf den nächtlichen Runden lagen 20 Kontrollpunkte. An jedem Turm wurde ins Horn geblasen, um die Turmwächter wach zu halten. Eine Runde durch die Altstadt entsprach einem Rechteck mit den Seitenlängen von 400 Meter x 300 Meter. Am Haus der bis vor einigen Jahrzehnten existierenden Feinbäckerei Kessler in der Kellereistraße sagt Emmig, dass Kessler um 1895 das erste Speiseeis in Eberbach herstellte. Kinder und Nachbarn bekamen eine kostenlose Probeportion. Der erste Eindruck vom damals erschrockenen Heinrich Eiermann: "Kinder, das Zeug ist noch gefroren. Stellt’s auf den Ofen und macht’s warm". Nächster Halt ist die Amalienpforte an der Zwingerstraße. Diese Straße liegt außerhalb der Stadtmauer an der Stelle des ehemaligen Festungs- bzw. Stadtgrabens, dem damaligen Zwinger.

Ein Unikum: in einigen Häusern der Zwingerstraße ist im Dachboden eine kleine Luke zum Hinterhaus. Bei Hochwasser wurde diese von beiden Seiten geöffnet, damit die Bewohner durchs Hinterhaus trockenen Fusses ins Freie gelangten. Aufgrund dieser Abhängigkeit hätten sich die Bewohner der Altstadt untereinander keinen Streit leisten können.

Die in früheren Zeiten geschäftstüchtigen Eberbacher Ratsherren hätten im Stadtgraben eine erfolgreiche Karpfenzucht betrieben. Bestritten wurde aus den Erträgen der Verteidigungsetat: unter anderem die Ausbesserung der Stadtmauer und der Wehrtürme, die Beschaffung von Waffen.

Nächste Station auf der spannenden und humorvollen Nachtwächter-Tour ist das letzte Eberbacher Plumpsklo an der Außenmauer eines Hausses in der Weidenstraße. In Betrieb war der rote Holzanbau bis Ende der 1950-er Jahre. Quittiert wurde das erfolgreiche Geschäft mit einem hörbaren Plumps durch ein ca. 30 cm dickes Rohr in die Kanalisation. Viel interessantes berichtet Emmig vom Küfereimuseum, das eine alte, original erhaltene Küferwerkstatt beherbergt.

Die ehemalige lutherischen Kirche von 1777 in der Oberen Badstraße beherbergt heute eine Gaststätte. Schon in früheren Jahrhunderten habe eine Getränkesteuer existiert: das Ungeld. Den höchsten Ungeld-Betrag hätte der Bader, der Betreiber des Badehauses, abgeführt, nicht ein Wirtshaus.

Die Gruppe kommt beim Haspelturm an, der letzten Station der Route. Wie in alten Zeiten ist der Nachtwächter in Aktion: hilfsbereit leuchtet Emmig einem Bewohner des Nachbarhauses heim. Dank des Nachtwächters findet der eine leichter das Schlüsselloch, die anderen erfahren, dass der Haspeltum ein Gefängnis war, und die Delinquenten mittels einer Haspel durch ein Loch ins Verlies gelassen wurden.

Ein letztes Mal bläst der Nachtwächter in sein Horn und entlässt sein Gefolge in die dunkle Nacht.


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