Von Viktoria Schuler
"Zeitweise lag ich in meiner Wohnung komplett weggetreten im Delirium", denkt Martin P. (Name geändert) mit Grausen an ein schlimmes Kapitel seines Lebens: seine Alkoholsucht. Den Ausstieg schaffte er auf eigene Faust mit dem kalten Entzug, war dabei allein auf sich gestellt. Heute hilft er über die Selbsthilfegruppe in Eberbach anderen Suchtkranken. Ebenso wie Linda S. (Name geändert.).
Bis Linda S. vom Alkohol los kam, hat sie viel Leid erlebt. Gewalt durch ihren Ehemann, die Kinder sollten von ihren Problemen nichts mitbekommen. Sie will funktionieren, als Mutter und Ehefrau. Also greift sie zum Alkohol, wird abhängig. "Wie besorge ich ihn?" und "Wie entsorge ich ihn?" - Ihr Leben dreht sich nur noch darum, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Denn wie andere Alkoholabhängige baut auch sie ein Lügengerüst um ihre Sucht auf, versteckt Flaschen im Wäscheraum, damit die Kinder nichts merken. Doch die sehen, wie es der Mutter geht und sind irgendwann alt genug, um das Elend zu erkennen.
Linda S. begreift, dass die Sucht ihr Leben und das ihrer Familie zerstört, will loskommen. 2006 macht sie die erste Entgiftung: Sechs Wochen ist sie stationär und ein halbes Jahr ambulant in Therapie. 2009 kommt der Rückfall, es geht um Leben und Tod. Die zweite Entwöhnung macht sie stationär in Wiesloch.
Martin P. hat für sich mit dem kalten Entzug einen anderen Weg gewählt. "Ich war dabei völlig allein, ohne die Spezialisten einer Entzugsklinik", beschreibt er. Große Hilfe bekam er von der Selbsthilfegruppe, die ihm sein Hausarzt empfohlen hat. Seit einiger Zeit unterstützt und begleitet er selbst Alkoholabhängige und andere Suchtkranke auf ihrem Weg aus der Sucht. Denn als ehemaliger Alkoholiker weiß er genau, wie es den anderen geht oder gegangen ist. Gewohnheit, Missbrauch, Sucht und Kontrollverlust - diese Phasen durchlaufen seiner Meinung nach Suchtkranke. Dabei ist die Grenze zwischen Gewohnheit und Missbrauch hauchdünn, individuell und fließend. "Wann kann ich die nächste Flasche aufmachen?", "Morgen höre ich auf" - wenn solche Gedanken immer wieder aufploppen, könnte ein besorgniserregender Punkt schon erreicht sein.
"Gefährlich ist, dass viele Süchtige sich über ihren Eigenkonsum nicht im Klaren sind", sagt Martin. "Einmal hatte ich unbewusst das Gefühl, mit mir stimmt etwas nicht, aber das Bewusstsein bügelt das schnell ab." Schleichend wird die Sucht zum Lebensmittelpunkt und alles andere um einen herum nur noch vage, "denn am Anfang wirkt die Sucht noch euphorisierend, dann sterben normale Gefühle einfach ab", erklärt Martin.
Der Punkt, an dem man sich Hilfe holt, sei bei jedem anders. Es kann der Verlust der Fahrerlaubnis sein, oder der Partner oder Verwandte ertragen die Sucht nicht mehr. Manchmal drängt der Arbeitgeber dazu, etwas zu unternehmen. "Die meisten gehen den ersten Schritt zur Heilung erst, wenn sie nicht noch tiefer fallen können", bedauert Linda. "Im Nachhinein weiß ich, ich hätte diesen Schritt auch viel früher machen müssen."
In der Selbsthilfe geht es um die Fragen, wie kann ich mir selbst helfen? und wie führe ich ein Leben in zufriedener Abstinenz? Wobei das "neue Leben" mit Inhalten gefüllt werden muss. "Von der Berufsfindung bis zur Freizeit leistet die Gruppe Unterstützung und praktische Lebenshilfe", sagt Linda, die selbst in der Gruppe motiviert wurde, sich auf eine Stelle zu bewerben.
Linda und Martin sind Gruppenleiter der Selbsthilfegruppe in Eberbach, die seit 2001 Unterstützung für Suchtkranke bietet. Voraussetzungen für die Funktion als Gruppenleiter sind zwei Jahre Abstinenz und der Besuch mehrerer Seminare zum Thema Sucht. Derzeit übernehmen vier Gruppenleiter die wöchentlichen Sitzungen. Die Teilnehmer sind zwischen 25 und 70 Jahre alt, unter ihnen Betroffene und Angehörige. Die Erkrankungen sind gemischt: Alkohol, Drogen, Depressionen, Magersucht und Spielsucht. "Alle Suchtkrankheiten sind sich sehr ähnlich", hat Martin im Laufe seiner Zeit als Leiter festgestellt. "Bestandteil jeder Sucht ist, dass ich sie mir gut rede." Auch deren Ursachen ähneln sich: Berufliche oder familiäre Probleme, mangelnde Anerkennung oder mangelndes Selbstwertgefühl.
Suchtkrankheiten ähneln sich
In der Runde treffen Betroffene auf Menschen, die mit dem gleichen Problem kämpfen. "Die Akzeptanz, an seinem Suchtproblem zu arbeiten, ist eher da, wenn die Motivation von einem Suchtkranken oder trockenen Alkoholiker kommt", weiß Linda. Die Gruppe biete einen sicheren Raum. "Es gibt viele Neue, die gleich reden. Andere öffnen sich erst später. Hierzu gehört, wie es einem geht. Tage, an denen es den Sonnenschein gibt, sind ebenso legitim wie ein Blöder-Hund-Tag", fügt Linda hinzu. Wenn man andere Verhaltensmuster lerne, brauche man nicht mehr zu trinken oder Medikamente zu nehmen - und die eigene Wertschätzung steige.
Normalerweise wird über die Sucht und das Leben gesprochen. Monatlich findet ein Themenabend statt: Wie ist das Leben ohne Alkohol? - Einsamkeit - Was ist Glück? - Kontrolliertes Trinken.
Auch "Rückfall" war ein Thema. Ein kleines Pils, ein Mon Chérie, eine Weinsauce - ein plötzlicher, unkontrollierter Rückfall sei auf dem Weg zum Ausstieg schnell ausgelöst, sagt Martin. Denn Sucht sei eine chronische Krankheit. Der Körper habe gelernt, dass das Suchtmittel beruhigend, Angst lösend und belohnend wirkt. Die Selbsthilfegruppe bietet daher "Ausrutscherverträge" an. Diese werden mit einem anderen Betroffenen aus der Runde oder mit einem Leiter geschlossen. Um aus der Situation herauszukommen, verspricht der "Vertragspartner", telefonisch oder persönlich sofort da zu sein, wenn ein Rückfall droht. Und man gibt sich das gegenseitige Versprechen, sich nicht zu verurteilen.
Martin hat eine zusätzliche Strategie entwickelt, um nicht rückfällig zu werden. "Man muss zwar Abstand zum Suchtverhalten gewinnen, aber die Sucht darf auch nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwinden." Die Sucht publik zu machen, schütze ihn davor, rückfällig zu werden. Früher wurde viel öfter stigmatisiert, heute sei die Akzeptanz in der Gesellschaft schon etwas besser, sagt er.
Info: Als erste Anlaufstelle bietet die Suchthilfe in der Friedrich-Ebert-Str. 6 kostenlose und anonyme Suchtberatung an. Träger der Selbsthilfegruppe ist Drogen e.V. aus Wiesloch.